Wenn das deine Mutter wüsste … Leseprobe

Kapitel 1 

Es war ein Plan, der mich tief meiner Seele quälte. Alles war perfekt inszeniert: Der Anruf des »Sicherheitsdienstes« – ein makelloses Schauspiel. »Vorfall auf dem Festivalgelände, wir müssen Sie dringend sprechen.« Meine Stimme war sachlich und professionell, auf genau die Art, die in ihr Vertrauen weckte. Ein Zögern von nur einem Moment, ein kurzes Aufblitzen von Zweifel, und dann siegte ihre Angst. Sie stürmte aus ihrer Wohnung, ganz so, wie ich es geplant hatte.

Draußen wartete ich, verborgen im Schatten, während mein Herz hemmungslos gegen meine Brust schlug. Jeder Schlag erinnerte mich daran, warum ich hier war, warum ich das tun musste. Ich griff sie von hinten, riss ihren Kopf ruckartig zur Seite und rammte ihr die Nadel in den Hals. Alles ging viel zu schnell für eine Gegenwehr. Sie taumelte und fiel rücklings in meine Arme. Ich fing sie auf, ihr Gewicht lag schwer auf meinen Schultern, und schleppte sie zu meinem Leihwagen.

Die Fahrt erschien mir endlos lang, jeder Kilometer ein weiterer Schlag gegen das, was von meinem Gewissen noch übrig war. Als wir in meinem Arbeitsraum ankamen, entkleidete ich sie und legte ihr das Kleid an, das ich extra für diesen Moment gekauft hatte. Anschließend schnallte ich sie auf dem Tisch fest. Sie würde bald aufwachen. Es war kein angenehmer Gedanke. Ihr Schmerz war kein Triumph für mich, sondern nur die bittere Konsequenz dessen, was sie war. Die ersten Bewegungen ihrer Finger, ein Zucken ihrer Lider – alles deutete darauf hin, dass sie das Bewusstsein zurückerlangte. Eine dumpfe Schwere lag auf meinen Armen, als ich mit einem langen, metallenen Greifwerkzeug nach den glühenden Schuhen griff. Vorsichtig hob ich sie an, das Metall schimmerte gefährlich und warf tanzende Schatten an die Wand.

Als sie die Augen aufschlug und ihre Situation begriff, regte sich kurz so etwas wie Mitgefühl in mir. Doch dieses Gefühl verflog, als ich an das Unrecht dachte, das sie verursacht hatte. Das war ihre Strafe, nicht meine Freude. »Bist du bereit für deinen letzten Tanz?« Meine Stimme klang rau, ohne Triumph, nur eine bittere Entschlossenheit. In ihren Augen sah ich, dass sie mir nicht folgen konnte. Ihre Gedanken waren noch zu benebelt. Ich löste die Fesseln so weit, dass sie sich mühsam aufrichten konnte. Langsam, fast zögerlich, hob ich die heißen Pantoffeln mit der Eisenzange und setzte sie ihr auf die Füße. Unmittelbar begann sie zu schreien. Ihre Haut zischte unter dem Kontakt und ein stechender Geruch verbrannten Fleisches durchdrang die Luft. Er war intensiv und beißend, ein widerlicher Duft, der sich in meine Nase bohrte. Es war ein Geräusch, das mir unter die Haut ging, aber nicht so, wie ich es erwartet hatte. Ihr Schmerz war kein Genuss, sondern eine notwendige Bürde, die ich tragen musste. Ruckartig zog ich sie von der Liege und stellte sie auf ihre Füße. Ihr Tanz begann, gezwungen von der Hitze und dem Schmerz, jeder Schritt eine groteske Wiedergutmachung für das, was sie getan hatte.

»Tanz«, sagte ich leise, fast mehr zu mir selbst als zu ihr. Ihre Bewegungen waren verzweifelt, unkoordiniert, wie die einer Marionette, deren Fäden wild gezogen wurden. Ihre Schreie erfüllten den Raum, aber sie hallten in meinem Inneren nur als traurige Bestätigung dessen wider, was ich längst wusste: Niemand würde uns hier hören. Niemand außer mir.

Ich sah ihr zu, wie sie versuchte, die Schuhe abzustreifen, ihre Finger am heißen Metall verbrannte und wie jeder Versuch sie nur noch tiefer in den Schmerz trieb. Es war wie das Märchen, das ich als Kind gehört hatte: Die böse Stiefmutter, gezwungen zu tanzen, bis ihr Körper versagte. Aber hier war nichts Märchenhaftes, nur der unbarmherzige Rhythmus der Gerechtigkeit.

Ihre Bewegungen wurden langsamer, und schließlich brach sie zusammen. Ihr Körper zitterte noch ein letztes Mal. Dann war es vorbei. Es gab keinen Applaus, keinen Triumph. Nur eine kalte Stille, die sich über den Raum legte. Ich trat zurück, spürte die Erschöpfung in jeder Faser meines Körpers und wusste, dass das hier noch kein Sieg war. Es war das Ende von etwas, das niemals hätte beginnen sollen.

Eine Stunde später drapierte ich ihren Körper auf dem Friedhof. Ein symbolischer Ort, der niemandem etwas sagen würde, der nicht bereit war, tiefer zu blicken. Ich hinterließ eine Botschaft, eine letzte Herausforderung an all jene, die sie finden würden. Ob sie den Zusammenhang verstehen würden? Vielleicht. Aber sie würden nicht die Entschlossenheit verstehen, die mich zu dieser Tat getrieben hatte.

Ich sah noch einmal zurück und spürte einen Hauch von Bedauern – nicht über das, was ich getan hatte, sondern über das, was nötig gewesen war. Niemand würde den Schrecken übersehen, den ich geschaffen hatte.

Kapitel 2 

Enya lag in der Dunkelheit ihres Schlafzimmers, als sie plötzlich aus einem wirren Traum erwachte. Ihr Herz klopfte heftig, als sie den Druck auf ihrer Brust spürte. Ein kleines Kind mit einem schrecklich verzerrten Gesicht saß auf ihr und lächelte sie an. Ihre Versuche, es von sich zu schieben, waren vergeblich. Die Panik stieg in ihr auf, als sie realisierte, dass sie sich nicht bewegen konnte.

Mit einem abrupten Ruck wurde sie an den Beinen von unsichtbaren Händen gepackt und unter ihr Bett gezogen. Die vertrauten Wände ihres Schlafzimmers verschwanden und wurden durch die düstere, unheimliche Atmosphäre ihres alten Kindergartens ersetzt. Der Raum war von Schatten durchzogen, und die einst fröhlichen Kindergespräche waren zu unheilvollen, verzerrten Geräuschen geworden.

Vor ihr erhob sich die Kirche neben dem Kindergarten, und sie wusste, dass sie in Gefahr war. Die Mitglieder einer finsteren Sekte, die sie seit Langem aus ihren Albträumen kannte, bewegten sich lautlos um sie herum. Einer der Sektenführer trat hervor, seine knochigen Finger drückten hart in ihren Bauch. Der Schmerz war überwältigend real, als ob jemand ein scharfes Messer in ihre Haut stach.

Gerade als Enya dachte, sie hätte den Höhepunkt des Albtraums erreicht, wurde sie tatsächlich wach – nur um festzustellen, dass sie noch immer in ihrem Albtraum gefangen war. Sie fand sich erneut unter dem Bett wieder, der ganze Horror begann von vorn. Die Hände packten sie mit der gleichen brutalen Kraft, und die Schreie der Sektenmitglieder schienen lauter und intensiver zu werden.

Als sie dachte, es könnte nicht schlimmer werden, erwachte sie – oder glaubte es zumindest – als Daniel sich eng an sie kuschelte. Der Trost, den sie in der Nähe ihres treuen Lebensgefährten suchte, war jedoch nur von kurzer Dauer. Sie wurde abermals mit einem Ruck unter das Bett gezogen, und der Albtraum begann von vorne, als ob der Horror niemals enden würde.

Erst als das schrille Klingeln ihres Handys durch die Dunkelheit schnitt und eine Nachricht von Yvette angezeigt wurde, war Enya endlich wirklich wach. Ihre Nerven lagen blank, und ihr Herz raste noch immer vor Erschöpfung und Erleichterung.

»Hattest du wieder diesen Albtraum?«, murmelte Daniel, der durch ihre hastigen Bewegungen ebenfalls wach geworden war. Er griff nach ihr und zog sich näher an sie heran.

»Ja … das dritte Mal diesen Monat. Ich kann langsam nicht mehr.« Ihre Stimme zitterte, während sie versuchte, das Gefühl der totalen Erschöpfung in Worte zu fassen. »Es fühlt sich an, als würde mein Körper langsam zerfallen, Stück für Stück. Ich weiß nicht, wie lange das noch so weitergehen kann.« Sie schloss die Augen, doch die Dunkelheit brachte keine Ruhe, sondern ließ sie nur tiefer in ihre Qualen eintauchen. Sie hatte diese Albträume schon seit Ewigkeiten. Das Schlimmste daran war, dass sie nie aus ihren Träumen erwachte, wenn niemand da war, um sie zu wecken. Oftmals bildete sich eine Dauerschleife von sich aneinanderreihenden Träumen. Diese Schlafphasen waren so intensiv, dass sie so gut wie nie mitbekam, wenn Daniel spät abends oder sogar manchmal erst in der Nacht nach Hause kam.

Daniel erkannte, dass an Schlaf für beide nicht mehr zu denken war, und setzte sich auf. »Ich denke, das ist nur die Aufregung. Du hast das ganze Jahr hart für dieses Festival gearbeitet. Und ganz ehrlich? Wenn ich den ganzen Tag diese verstörenden Halloween-Masken sehen müsste, würde ich auch Albträume bekommen.«

Enya nickte stumm in die Dunkelheit.

Als Märchenforscherin lebte Enya für alte Märchen und Legenden. Es überraschte sie sehr, als Livia Opitz sie vor etwas über einem Jahr kontaktierte. Livia plante ein Märchen-Halloween-Festival in der Hildener Innenstadt und suchte dringend jemanden, der sich mit Märchen auskannte. Trotz einer gewissen Skepsis freute sich Enya über Livias Interesse an ihren Publikationen und die Gelegenheit, bei den Vorbereitungen für das Festival mitzuwirken. Daniel hatte zwar Bedenken geäußert, aber Enya ließ sich nicht davon abbringen. Märchen waren ihr Ein und Alles, und wenn sie dazu noch helfen konnte, diese in ein Horrorszenario umzuwandeln und dafür gut bezahlt zu werden, wäre das ein großer Schritt in ihrer hoffentlich bald in Schwung kommenden wissenschaftlichen Karriere.

»Wer hat dir eigentlich so früh schon geschrieben?«, fragte Daniel und riss Enya aus ihren Gedanken.

Enya griff wieder nach ihrem Handy und sagte: »Das war Yvette. Ich habe echt keine Ahnung, warum sie sich so früh meldet.«

»Vielleicht sind die Festival-Gebäude abgebrannt«, überlegte er laut, und Enya hörte den süffisanten Ton in seiner Stimme.

»Klar, das würde dich freuen, oder?«, fragte sie und stieß ihn sanft mit dem Ellbogen in die Seite.

»Nur ein kleines bisschen. Dann hättest du endlich wieder mehr Zeit für mich.«

»Du bist so ein Spinner. Ich weiß, dass die Doppelbelastung derzeit nicht angenehm ist. Ich arbeite nicht nur für das Festival, sondern auch noch für die Uni. Ich kann von Glück reden, dass ich meine Stunden in diesem Jahr drastisch reduzieren durfte, um an der Planung mitwirken zu können.« Sie schüttelte den Kopf und entsperrte ihr Handy, um zu sehen, was Yvette so früh von ihr wollte.

»Das weiß ich doch. Du fehlst mir nur. Inzwischen sehen wir uns nur noch morgens oder spät abends. Als ich gestern Abend nach Hause kam, hast du schon tief und fest geschlafen.«

Sie antwortete nicht.

»Enya? Alles okay?« Seine Stimme klang besorgt.

Sie schwang die Beine aus dem Bett, griff aber nochmal nach Daniels Hand, um sich zu vergewissern, dass sie wirklich wach war und sagte: »Nein, nichts ist okay. Livia ist mal wieder verschwunden.«

Kapitel 3 

Aufgeregt stürmte Kommissarin Käthe Karess am frühen Morgen in das Büro ihrer Kollegen Frank Kessler und Erik Wagner. »Habt ihr das schon gehört?«, rief sie und wedelte aufgeregt mit einer Ausgabe der Rheinischen Post in der Hand. Kessler und Wagner sahen fast gleichzeitig von ihren Computerbildschirmen auf und blickten ihre Kollegin ausdruckslos an. Wagner, aktuell der jüngste Kriminalkommissar bei der Kripo Mettmann, fixierte Karess eindringlich. »Was sollen wir denn gehört haben?«, fragte er betont sachlich.

Karess war verwirrt. So ernst hatte sie ihren Kollegen selten erlebt. Wagner, der schlank und sehr attraktiv war, war normalerweise derjenige im Team, der zu allem eine sarkastische Bemerkung machte und kaum eine Situation ernst nahm. Sogar wenn sie eine Leiche untersuchten, konnte er sich meist einen kleinen Spott nicht verkneifen.

Kessler und Wagner war in den letzten Wochen nicht entgangen, dass Karess intensiv daran arbeitete, sich ihren Berliner Dialekt abzutrainieren. Karess ließ die Zeitung sinken und schluckte schwer. »Was ist hier los?«, fragte sie und trat einige Schritte näher an ihre Kollegen heran.

»Nun«, begann Kessler und erhob sich von seinem Platz. Er überragte Käthe um zwei Köpfe und baute sich bedrohlich vor ihr auf, die Arme verschränkt. Der kräftige Kerl, stets darauf bedacht, körperlich fit zu bleiben, sah mit seinen fast 57 Jahren immer noch verdammt attraktiv aus. »Vielleicht hätten wir es gern von dir persönlich erfahren, dass du unser Team verlässt.«

Karess zog nervös die Luft durch ihre kleine Zahnlücke ein. »Schmitty, die olle Petze, hat es euch also schon erzählt. Wenn ich den Fettsack in die Finger kriege, wird er sein blaues Wunder erleben.«

Georg Schmitt hatte die Abteilung der Kripo Mettmann Anfang des Jahres übernommen.

»Gib Schmitty nicht die Schuld. Du hättest es uns sagen können. Schließlich dachten wir, wir wären ein Team«, entgegnete Wagner tadelnd.

»Sind wir doch auch!«, rief sie trotzig und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. »Aber Schmitt wusste nicht, ob ich die Versetzung nach Frankfurt wirklich bekomme. Ich wollte hier keine Pferde scheu machen, bevor es nicht feststeht, dass ich wirklich gehe.« Sie warf einen Blick auf Kessler. »Und nun komm, mein großer, böser Gorilla. Wir wissen alle, dass du hier nur den Harten markierst. Innerlich bist du sanft wie ein Lamm. Keiner nimmt dir den knallharten Typen ab.«

»Da hat sie durchaus recht, Frank«, bemerkte Wagner. Langsam wurde er etwas zutraulicher.

Kessler zuckte mit den Schultern und setzte sich wieder auf seinen Platz. »Na ja, man kann es ja wenigstens mal versuchen, oder? Aber so wie es aussieht, ist deine Versetzung durch, sonst hätte Schmitty nichts erzählt. Du gehst wegen Kramer, oder?«

Jerry Kramer war ein ehemaliger Kollege, der nach ihrem letzten gemeinsamen Fall nach Frankfurt gezogen war, um mehr Zeit für seinen unehelichen Sohn zu haben. Käthe und Jerry verband eine tiefe Freundschaft, und sie vermisste ihn schmerzlich.

Sie nickte zaghaft. »Richtig. Ich hatte mich Anfang des Jahres riesig gefreut, dass er zurück ist, und dann haut er gleich wieder ab. Natürlich verstehe ich das, und Leute, echt, ich liebe euch, aber an Jerry kommt so schnell keiner ran.« Sie versuchte ein schiefes Lächeln.

»Lass gut sein, Käthe. Wir verstehen das. Wir wollten hier bloß mal die tief verletzten, betrogenen Kollegen raushängen lassen«, sagte Wagner in einem gespielten dramatischen Tonfall und legte eine Hand auf die Brust, um seine Worte zu unterstreichen. »Hat deine Versetzung eventuell irgendwas damit zu tun, dass du dir seit Wochen große Mühe gibst, deine Berliner Schnauze loszuwerden?«

Karess nickte zaghaft. »Jerry sagt, die Bekloppten in Frankfurt stehen da nich’ so drauf. Jetzt geh’ ich zweimal die Woche zu so nem Sprachtrainer, der mir das abgewöhnt. Aber nun zu euch beiden: Ihr seid die beklopptesten Vögel, die man sich vorstellen kann. Ich hätte fast geglaubt, dass ihr mir für den Rest meiner verbleibenden Zeit hier das Leben zur Hölle machen wollt.« Sie schüttelte den Kopf und stemmte die Hände in die Hüften, wobei sie die Zeitung zwischen ihren Speckrollen einklemmte.

Kessler deutete auf die Zeitung. »Was genau wolltest du uns eigentlich erzählen, als du hier reingestürmt bist?«

Sie klatschte sich mit der Hand gegen die Stirn. »Ach ja, da war ja was.« Aufgeregt faltete sie die Zeitung auseinander. »Die Stadt Hilden veranstaltet ein kleines Halloween-Festival in der Innenstadt. Könnt ihr euch das vorstellen? Grusel, Horror, Gänsehaut und jede Menge blutige Leichen.« Ihre Augen strahlten vor Begeisterung.

Kessler schloss die Augen. »Als ob wir in unserem Job nicht schon genug Horror und Leichen serviert bekämen.«

»Schon klar, mein Brummbär. Aber das hier«, sie tippte mit dem Finger auf die Schlagzeile, »ist ja nur Show. Und mal unter uns: Ich liebe Halloween. Ich finde es großartig, dass die Stadt das genehmigt hat. Noch dazu wollen sie den ganzen Bums auch noch mit Märchen verknüpfen. Sprich: Wir bekommen ein Halloween-Märchen-Festival und das, meine Freunde, finde ich außerordentlich knorke.«

»Also ich bin da auf Käthes Seite. Ich steh’ total auf diesen überdrehten Quatsch«, warf Wagner ein. »Und wenn sie das alles noch mit Märchen verknüpfen, könnte das durchaus interessant werden.«

»Dann könnt ihr euch mit meiner Tochter zusammentun. Lottie findet diesen Unsinn auch großartig.« Er fuhr sich mit den Händen durch die Haare, die daraufhin in alle Richtungen abstanden. »Aber ich denke, dieses Festival wird sie wohl ausfallen lassen müssen. Das Baby kann jeden Tag kommen, sie sollte sich schonen. Inzwischen ist sie schon genau eine Woche über dem errechneten Geburtstermin. Ihr könnt euch sicher vorstellen, dass wir gerade alle etwas nervös sind.« Er griff nach seinem Mobiltelefon, um zu prüfen, ob er eventuell eine Nachricht versäumt habe.

Kesslers Tochter Charlotte, von ihm liebevoll Lottie genannt, war Anfang des Jahres mit gerade einmal sechzehn Jahren schwanger geworden. Sie und ihr Freund Alessio wollten das Baby unbedingt behalten. Kessler und seine frisch angetraute Frau Dr. Constanze Levit sicherten ihnen jede Unterstützung zu, die sie und Alessio brauchten, unter der Bedingung, dass Charlotte nach dem Mutterschutz ihren Schulabschluss machen würde. Sobald der Mutterschutz endete, würde Kessler ein Sabbatjahr nehmen, um sich während Charlottes Schulzeit um sein Enkelkind zu kümmern.

»Verständlich«, sagte Wagner. »Man stelle sich nur mal vor, das Baby würde während der Fahrt auf der Geisterbahn das Licht der Welt erblicken.« Er legte den Kopf schief und grinste seinen Kollegen an.

»Also ich fände das episch«, sagte Karess trocken und zuckte mit den Schultern. »Aber sag’ mal, Opi, wie läufts denn so mit Alessio?«

Alessio, Charlottes Freund war vor Kurzem bei Kessler und seiner Frau eingezogen. Kessler hatte dies selbst vorgeschlagen, da er wollte, dass der junge Mann, Charlotte und das Baby von Anfang an als Familie zusammenleben. Auch wenn dies bedeuten würde, dass sie zunächst unter seinem Dach wohnen würden.

»Frag nicht, Karess, bitte frag nicht.« Er vergrub das Gesicht in seinen Händen und atmete tief durch. »Der Junge lässt seine Haare überall im Bad liegen. Ich weiß nicht mal, ob die von seinem Schädel oder seinem Schambereich sind.« Er schüttelte sich angeekelt. »Und er frisst ständig meine Lieblingswurst weg. Du stehst morgens auf und freust dich auf ein saftiges Sandwich –  … und dann is’ deine Wurst weg.«

Wagner entwich ein lautes Lachen. »Na, Hauptsache Alessio geht es gut.«

»Ganz meine Rede, Goldjunge«, bestätigte Karess und begann ebenfalls zu lachen.

»Ich hasse euch beide. Wisst ihr das eigentlich? Der Junge raubt mir den letzten Nerv. Aber immerhin kümmert er sich gut um Charlotte und geht seiner Ausbildung gewissenhaft nach. Mehr kann und will ich vorerst von ihm nicht verlangen.«

»Wann beginnt dieses Festival genau?«, fragte Wagner, um wieder auf das eigentliche Thema zurückzukommen.

Karess studierte den Artikel mit zusammengezogenen Augenbrauen. »Übermorgen, also am Freitag, geht’s los. Hoffen wir mal, dass uns bis dahin kein Mord auf den Tisch kommt«, sagte sie grinsend und präsentierte die Zahnlücke zwischen ihren Schneidezähnen.

Wie auf Kommando klingelte in diesem Moment Kesslers Telefon. Er zuckte regelrecht zusammen. Als er die Nummer auf dem Display sah, beruhigte er sich kurz. Es war nicht Charlotte, sondern Ismael Yilmaz von der Polizeiwache in Hilden.

»Wo brennt’s, Yilmaz?«

Kessler hörte schweigend zu, suchte Blickkontakt zu Wagner und gab ihm mit einem Handzeichen zu verstehen, dass sie sich auf den Weg machen mussten.

Nachdem Kessler das Gespräch mit Yilmaz beendet hatte, fragte Wagner: »Und, was haben wir Schönes?«

»Eine Leiche auf dem Hauptfriedhof in Hilden. Yilmaz sagt, sie sieht übel aus.«

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