ADHS? Bestätigt. Autismus? Verdachtsdiagnose läuft. Hirn-Bingo deluxe. Hauptpreis inklusive Dauerabo auf Selbstzweifel, Systemabstürze und der stillen Hoffnung, dass es irgendwann ein Firmware-Update gibt.
Überraschend? Nicht wirklich. Ich hab’s geahnt. Freunde auch. Jetzt hat das Ganze einfach nur einen Namen. Mein Alltag ist nicht plötzlich anders – aber jetzt weiß ich, warum mein Kopf sich manchmal anfühlt, als würde jemand mit 100 Tabs gleichzeitig surfen, nur ohne Adblocker. In der Regel läuft auch noch meine Disney-Playlist im Hintergrund. Also: im Kopf. Nicht auf dem Handy.
Ein Dauerbegleiter ist mein innerer Kommentator. Der redet. Immer. Er kommentiert nicht nur mich, sondern auch alles um mich herum. Ein Gesichtsausdruck von jemandem in der U-Bahn? Kommentar. Ein schief hängendes Bild im Café? Kommentar. Ein falsches Wort in einem Gespräch? Kommentar mit Nachklapp. Das Ganze klingt im Kopf wie die Off-Stimme aus den alten TV-Total-Einspielern (für die Älteren unter euch): „Und da hat sie’s mal wieder versaut – stark!“ Er ist nicht laut, aber er ist da. Und wenn ich müde bin, gestresst oder reizüberflutet, übernimmt er komplett. Funfact: Ich dachte bis vor Kurzem, jeder hätte so einen. Turns out – nope. Nur ich. Und ein paar andere, bei denen’s im Kopf ähnlich laut ist wie auf ’nem Rummelplatz in Dauerschleife.
Fokus ist entweder Totalausfall – oder Hyperfokus auf Level Besessenheit. Entweder ich kann gar nichts. Nicht denken, nicht handeln, nicht mal sagen, was ich eigentlich sagen wollte. Oder ich sitze acht Stunden an einer Szene, einem Cover, einem Satzzeichen, vergesse zu trinken, zu essen, zu existieren – nur um danach festzustellen, dass ich den eigentlichen Sinn komplett aus den Augen verloren habe.
Und dann gibt es diese Momente, in denen ich meine eigenen Texte lese und mich frage, ob ich das wirklich geschrieben habe. Weil ich mich nicht erinnere, so einen Quatsch verzapft zu haben. Ernsthaft. Ich lese das, schüttele den Kopf und denke: War ich das? Oder hat sich da nachts jemand Fremdes in mein Dokument gehackt? In meinen Erstversionen gibt es Schachtelsätze, die eine halbe Seite füllen.
Und damit nicht genug. Ich habe regelmäßig Gedanken wie: Hab ich auffm Klo abgezogen? Also geh ich zurück, kontrolliere. Vielleicht nochmal. Sicher ist sicher. Solche Momente sind mein Alltag. Überall. Tür abgeschlossen? Licht aus? Herd an? Oder doch aus? Und ja, manchmal nervt es mich selbst mehr als irgendwen sonst.
Entscheidungen sind für mich auch so ein unterschätzter Endgegner. Wenn mein Mann mich fragt, wo wir essen gehen sollen – und dann direkt noch drei Optionen hinterherwirft – werde ich hochgradig aggressiv. Nicht, weil ich keinen Hunger habe. Sondern weil mein Hirn plötzlich zwischen „Italienisch oder Asiatisch?“ und „Warum existiere ich eigentlich?“ hin- und herspringt.
Dann das Thema Gespräche. Ich beginne bei Thema A, lande über drei Assoziationen bei M, streife kurz Z – und wundere mich, warum mein Gegenüber mich so anschaut, als würde ich gerade Finnisch rückwärts sprechen. Ich selbst merke den Sprung nicht mal – für mich war das alles logisch. Nur eben nicht nachvollziehbar für einige.
Soziale Kontakte? Ein Minenfeld mit Smileys. Es gibt Menschen, bei denen melde ich mich regelmäßig. An einigen klebe ich förmlich, dass ich schon Angst habe, ich könnte lästig sein. Und andere, bei denen merke ich Wochen später, dass ich sie völlig vergessen habe – nicht, weil sie mir egal sind, sondern weil mein Gehirn wie eine verstopfte Inbox funktioniert.
Und manchmal brauch ich einfach Rückzug. Komplett. Ohne Erklärung. Weil alles zu viel wird. Weil mein Kopf keinen weiteren Reiz mehr aufnehmen kann. Weil sogar "Wie war dein Tag?" zu viel sein kann.
Nach Feiern oder Einladungen beginnt dann das große Gedankenmassaker. Habe ich mich komisch benommen? War ich zu laut? Zu leise? Hab ich was Falsches gesagt? Habe ich jemanden verletzt? Ich gehe das stundenlang durch. Tagelang. Und mein Kommentator tut sein Bestes, mich darin zu bestärken, dass ich wieder völlig sozialversagt habe.
In Gesprächen quatsche ich rein – nicht, weil ich bewusst unhöflich sein will, sondern weil meine Impulse da ziemlich häufig in Urlaub sind. Der Gedanke muss raus, bevor er weg ist. Ich will mich nicht vordrängen. Ich will ihn nur festhalten. Schnell. Jetzt. Sonst ist er verloren.
Kleiner Funfact: Ich sammle Stifte. Viele. Nicht aus Sammelleidenschaft – sondern weil sich jeder Tag anders anfühlt. Was gestern gut in der Hand lag, geht heute gar nicht. Ich muss mich durchprobieren, bis einer passt – bis Reibung, Gewicht, Gefühl gerade stimmen. Und meine Handschrift? Wechselt mit der Laune. Nicht aus Stil. Sondern weil mein Kopf manchmal nicht mehr bei der Hand ankommt.
Mein Schreibtisch ist ein Schlachtfeld. Ich sehe das. Ich weiß: räumen wär gut. Aber der Gedanke verpufft. Oder ich starre auf ein Handtuch auf dem Boden – und kann mich nicht entscheiden, ob ich’s aufhebe. Klingt banal? Ist es nicht. Es ist, als müsste ich erst ein inneres Betriebssystem hochfahren, das sagt, was jetzt zu tun ist – und wie. Andere machen einfach. Ich denke. Und während ich denke, passiert: nichts.
Und dann ist da diese Erschöpfung. Nicht „müde, weil viel gemacht“ – sondern müde, weil mein Kopf den ganzen Tag auf Hochbetrieb lief. Weil ich versucht habe, alles zu filtern, mich zusammenzureißen, zu funktionieren – obwohl mein System längst auf Anschlag war. Ich bin nicht faul. Ich bin nicht überfordert vom Leben. Ich bin einfach voll. Reizvoll. Reizübervoll.
Ich beobachte viel. Analysiere. Versuche, Muster zu verstehen – auch bei Menschen. Aber oft bleib ich außen. Ich bin da, aber nicht drin. Ich funktioniere. Irgendwie. Aber selten im gleichen Takt wie die anderen.
Und dann ist da noch was: Kaffee, Energydrinks und Co.? Machen mich müde. Kein Witz. Während andere damit durchstarten, klappe ich innerlich zusammen. Konzentration? Ja, kurz. Aber mit müden Augen und dem dringenden Wunsch nach einem Bett. Und das war auch bei Antidepressiva so – völlig gegenteilige Wirkung. Nicht nur anfangs, sondern dauerhaft. Darum hab ich sie abgesetzt. Hat übrigens auch zur ADHS-Verdachtsdiagnose geführt – danke, LVR-Klinik. Trotzdem trinke ich Kaffee. Weil er geil schmeckt. Und, na ja: Weil ich davon kacken kann. Prioritäten. So wichtig.
Und trotzdem hab ich fünf Kinder, das Abitur und die Uni gewuppt. Keine Ahnung wie. Masking. Boss Level.
Und jetzt stell dir vor, ich soll mit diesem Kopf Bücher schreiben. Ich konstruiere Charaktere, baue Handlungsstränge, balanciere Spannungsbögen – während mein Hirn parallel denkt: „Du hast doch alles vergessen. Da fehlt der Zusammenhang. Und überhaupt, du kannst das nicht.“ Ich schreibe mit einer Mischung aus innerer Explosion, äußerer Reizüberflutung und dem ständigen Drang, trotzdem abzuliefern. Und ich liefere. Weil ich muss. Weil es das Einzige ist, was mich kurzzeitig sortiert.
ADHS ist kein TikTok-Trend. Autismus ist keine schrullige Eigenheit. Depression ist kein Stimmungstief. Es ist mein Alltag. Es ist nicht immer schlimm – aber es ist immer da. Und es macht mich nicht weniger fähig. Nur anders funktionsfähig.
Wenn ich zu schnell rede, abschweife, zu lange still bin oder plötzlich fünf Themen auf einmal anfange – dann nicht, weil ich nicht will. Sondern weil mein Kopf in einer anderen Taktung lebt. Nicht auf der Suche nach Aufmerksamkeit – sondern auf der Flucht vor dem nächsten Impuls.
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