Fahr wohl, kleine Alice - Leseprobe

Prolog

Spätsommer 2010

 

Die Farben des Sommers verblichen allmählich, und ein Hauch des Herbstes lag in der Luft. Es roch nach nassem Laub und welkenden Blumen, und die Abendsonne tauchte alles in ein geheimnisvolles Dämmerlicht.

Lisa Winter lehnte regungslos an einem Baum, und ihr blaues Kleid flatterte gespenstisch im schwachen Abendwind. Die bunte Schleife in ihrem Haar wirkte wie ein zarter Farbtupfer inmitten dieser Tragödie, und die Szene erinnerte an eine verstörende Version von Alice im Wunderland.

Vor ihr auf dem Boden lag eine bunte Picknickdecke mit einem Teeservice in verschiedenen Farben und Formen. Sie hielt eine der Tassen in ihrem Schoß fest mit ihren Händen umschlossen. Die Teetassen schienen stille Zeugen eines grausamen Schicksals zu sein. Auf dem Teller lagen Kekse, als wären sie von einer unheilvollen Hand platziert worden, und unter einer der Tassen ragte ein Zettel mit der Aufschrift ›trink mich‹ hervor.

In der Ferne hörte man eilige Schritte auf der Eichenstraße, während neugierige Nachbarn sich hinter ihren Gardinen versteckten. Während Andreas Winter in einem Anfall wilder Hysterie die Straße entlang rannte, wagte niemand es, sich ihm in den Weg zu stellen. Sein Gesicht verzerrte sich vor Wut und Verzweiflung, seine Augen waren weit aufgerissen. Er schrie immer wieder: »Der Hutmacher hat meine Lisa getötet!« Die Leute warfen ihm besorgte Blicke zu, aber niemand wagte sich, ihn zu beruhigen oder ihm zu widersprechen.

Die Ermittler, darunter auch der leitende Kriminaldirektor Horst Wellhausen und Kriminalkommissar Frank Kessler von der Kripo Mettmann, trafen schnell am Tatort ein und fanden das Bild eines Mannes vor, der scheinbar den Verstand verloren hatte. Er wehrte sich mit Händen und Füßen gegen seine Festnahme.

Während der Prozess gegen Andreas Winter voranschritt, wurden Zeugen gehört, die von seinem verstörenden und verwirrten Ausbruch berichteten. Der einst liebevolle Vater war nicht mehr wiederzuerkennen, und es wurde deutlich, dass er von einem dunklen Wahnsinn verschlungen wurde, der ihn nicht mehr losließ.

Die Staatsanwaltschaft und die Verteidigung stritten unerbittlich darüber, ob Andreas Winter zurechnungsfähig war. Schließlich urteilte das Gericht, dass er nicht ins Gefängnis gehörte, sondern in eine geschlossene Psychiatrie, wo er beobachtet und behandelt werden sollte. Dieses Urteil sorgte für Diskussionen, doch die Richter waren überzeugt, dass es keine angemessene Strafe im Gefängnis für einen Mann gab, der so offensichtlich den Verstand verloren hatte.

Der Vorfall hallte noch lange in den Köpfen der Hildener Bevölkerung wider, und die Frage, was wirklich geschehen war, blieb unbeantwortet. Geteilte Meinungen durchzogen die Gemeinschaft. Manche glaubten, Andreas Winter habe die kleine Lisa eiskalt ermordet. Sie sahen in der Tragödie einen grausamen Akt, der von der Dunkelheit des Mannes selbst ausgelöst worden war. Andere glaubten, der Mann habe schlichtweg den Verstand verloren und sei sich selbst über seine Tat gar nicht im Klaren gewesen. Doch sie alle kamen überein, dass die Geschichte des Vaters, der Hutmacher habe seine Tochter ermordet, vollkommen absurd sei.

Doch egal, welcher Version man Glauben schenkte, eines stand fest: Die Welt der Winters war für immer von einer Schicht Dunkelheit und Geheimnissen überzogen, die niemals ans Licht kommen würden. In dieser vermeintlichen Wunderlandidylle lauerte eine unvorstellbare Finsternis. Die Blumen im Garten wirkten plötzlich weniger farbenfroh, und die vertrauten Wege erschienen nun wie Pfade durch ein geheimnisvolles Labyrinth, in dem die Wahrheit verborgen blieb. Die Menschen sahen den Vater mit anderen Augen, und selbst wenn die Zeit verstrich, blieb das Warum ungelöst und die Vergangenheit in einen Schleier der Dunkelheit gehüllt.

 

Kapitel 1 

 

Heute

 

Erik Wagner hätte viel lieber zu Hause auf seinem Sofa gesessen, Chips geknabbert und Netflix geschaut. Stattdessen stand er in einer schummrigen Kneipe in der Nähe der Hildener Innenstadt. Frau Schlüter, die ehemalige Mathematiklehrerin, hatte das Klassentreffen des Abiturjahrgangs von 2011 organisiert, war jedoch selbst nicht anwesend. Das gedämpfte Licht der rustikalen Lampen sorgte für eine gemütliche Atmosphäre. Die Kneipe gehörte einem ehemaligen Mitschüler namens Michael Stahl, der immer noch an Verschwörungstheorien glaubte und diese nun auch online verbreitete. Er nahm nicht wirklich am Klassentreffen teil, da er damit beschäftigt war, die Gläser der Gäste zu füllen. Als er Erik sah, winkte er freundlich. Michael Stahl war auffallend attraktiv, mit weichen Gesichtszügen und einer schlanken Statur. In der gedämpften Atmosphäre der Kneipe wirkte er faszinierend. Doch hinter seiner äußeren Schönheit verbarg sich eine verborgene Facette, die nur denjenigen bekannt war, die ihn näher kannten – seine unkonventionellen Ansichten und Ideen, die er auf fesselnde Weise diskutierte. Erik beobachtete ihn und wurde sofort von der scheinbaren Diskrepanz zwischen seiner äußeren Schönheit und seinen geheimen Überzeugungen eingenommen.

Der Geruch von Bier und Speisen durchzog die Luft und vermischte sich mit dem Holzaroma der Einrichtung. Plötzlich blieb sein Blick jedoch an einem Paar grauer Augen hängen – Augen, die ihn schon während seiner Schulzeit fast verrückt gemacht hatten. Diese Augen gehörten Julia Winter, die ihn einst verletzt und seine Jugendträume zerstört hatte. Seit sie derzeit mit ihm Schluss gemacht hatte, waren so viele Jahre vergangen, ohne dass ein Wort zwischen ihnen gewechselt wurde. Seine Unfähigkeit, Mitgefühl für sie zu empfinden, als ihre Schwester ermordet wurde, nagte an ihm. Welch unreifes Arschloch er doch damals gewesen war. Kurz darauf kam sie mit Felix zusammen.

Ein Klopfen auf seiner Schulter holte ihn zurück in die Gegenwart.

»Na, sieh mal einer an, der Herr Wachtmeister gesellt sich endlich dazu!«, schallte die unverkennbare Stimme, und Erinnerungsfetzen tauchten erneut in Eriks Gedanken auf. Es war Christian, ihr Zwillingsbruder. Derjenige, der ihn einst misshandelte, einfach so, weil er konnte und weil er nicht wollte, dass seine Schwester mit einem Jungen ausging, der – jedenfalls damals – einen halben Kopf kleiner war als sie. Erik erinnerte sich, wie Christian ihm damals die Nase gebrochen hatte, und wie er sich in diesem Moment schwach und hilflos gefühlt hatte. Das war der Auslöser dafür, dass er sich in einem Boxclub einschrieb, um sich verteidigen zu können, sollte noch einmal jemand versuchen, ihn zu schikanieren.

Der kräftige, dunkelhaarige Koloss lachte herzlich und meinte: »Es wurde auch höchste Zeit, dass du auftauchst; die anderen sind schon längst hier.« Er geleitete Erik zur Gruppe der Ehemaligen, die in lebhafter Unterhaltung vertieft waren.

Erik setzte sich neben Sonja, einer schlanken Brünetten mit strahlenden Augen und langen, gewellten Haaren. Sie, Anna und Julia waren seit der 5. Klasse die allerbesten Freundinnen und unzertrennlich. Schweigend beobachtete er das bunte Treiben um sich herum.

Jede von ihnen schien sich einen der Jungs aus Christians »Gang« geschnappt zu haben. Christian war mit Anna verheiratet. Während Anna in Teilzeit in einem Supermarkt arbeitete, war Christian inzwischen Meister in einer Fahrzeuglackiererei. Sie war noch immer genauso klein und zierlich wie damals. Trotz ihrer einunddreißig Jahre strahlte sie eine gewisse kindliche Aura aus, als wäre sie überhaupt nicht gealtert. Sonja und Rafael waren seit Jahren liiert, hatten jedoch erst kürzlich geheiratet. Für ihn war die Ehe nur ein veraltetes Überbleibsel aus dem Mittelalter, das nichts mit Liebe zu tun hatte. Sonja hatte es schließlich geschafft, ihn zum Traualtar zu bewegen. Rafael, der damals mit leichtem Übergewicht und Hautunreinheiten zu kämpfen hatte, war inzwischen ein sportlicher Mann mit einem freundlichen Lächeln.

Julia hatte jahrelang als Restauratorin gearbeitet, kündigte aber vor über einem Jahr, um sich einem großen Projekt zu widmen. Mehr konnte Wagner aus den Gesprächsfetzen nicht verstehen, da sie zu weit von ihm entfernt saß. Sie war nach wie vor mit Felix zusammen und inzwischen sogar mit ihm verheiratet. Sein Gesicht behielt seine markante Schlankheit, jedoch strahlte es nun düster und geheimnisvoll. Sein braunes Haar war sorgfältig nach hinten gekämmt und wirkte perfekt gestylt. Seine Augen hatten eine hypnotische Intensität, und seine Augenbrauen waren scharf definiert, als würde er auf jedes kleine Detail seines Äußeren achten. Kein Wunder, dass Julia nicht von ihm lassen konnte. Vielleicht lag es aber auch einfach daran, dass er als Investmentbanker in Düsseldorf unendlich viel Kohle scheffelte.

Aus den Gesprächen am Tisch konnte Erik vernehmen, dass sowohl Christian und Anna als auch Rafael und Sonja jeweils eine Tochter im Kindergartenalter hatten. Sonja arbeitete bei der Stadt Hilden als Verwaltungswirtin. Schräg gegenüber von ihm saß Esther, sie hatte lange, schwarze Haare und trug auffällige Kleidung. Von all seinen Mitschülern war Esther diejenige, die er am wenigsten leiden konnte. Niemand verbreitete Gerüchte so schnell wie sie. Immerhin hatte sie ihr Hobby zum Beruf gemacht und arbeitete inzwischen als freiberufliche Bloggerin, wo sie den neuesten Tratsch rund um Hilden veröffentlichte, und das auch noch verdammt erfolgreich. Sie betonte mehrfach, dass sie ihr Journalismus-Studium als eine der Besten ihres Jahrgangs abgeschlossen hatte und schon für viele hochrangige Zeitungen geschrieben hatte.

Die meisten hatten sich äußerlich verändert, die Jahre hatten ihre Spuren hinterlassen, doch die Freundschaft zwischen ihnen schien nach wie vor zu bestehen.

Erik fragte sich abermals, wieso er sich den ganzen Zirkus überhaupt antat. Doch je mehr Alkohol floss und die Stimmung lockerer wurde, desto froher war er, dass er sich dazu durchgerungen hatte zu kommen. Es wurde gelacht, Erinnerungen wurden ausgetauscht und Christian entschuldigte sich sogar für die gebrochene Nase. Erik hatte in dieser heiteren Runde gar nicht bemerkt, dass Julia schon eine ganze Weile auf dem Stuhl ihm gegenüber saß und ihn anstarrte. Schließlich trafen sich ihre Blicke und ein mulmiges Gefühl machte sich sofort in seiner Magengegend bemerkbar.

Nervös spielte sie mit den Fingern in ihren langen, blonden Locken und warf immer wieder flüchtig einen Blick hinüber zu ihrem Ehemann. Erik sah ihm an, dass er nicht begeistert davon war, dass Julia nun, nach all den Jahren, den Kontakt zu ihm suchte. War das wirklich ein Anflug von Eifersucht? Nach so vielen Jahren? Natürlich war das Blödsinn. Felix konnte Erik schlicht und ergreifend nicht leiden. Eine andere Erklärung gab es für ihn nicht. Schon damals waren die beiden absolut nicht miteinander ausgekommen. »Hey«, begann Julia zögerlich und leicht lallend. »Ich freu’ mich wirklich, dass du gekommen bist. Ich hab’ damit echt nicht gerechnet. Ich wollt’ dir nur sagen, übermorgen eröffne ich auf der Schwanenstraße, direkt unter unserer Wohung, mein eigenes Teehaus. Ich nenne es Whispering Leaves. Vielleicht hast du ja Lust, zur Eröffnung zu kommen.« Sie betete diese Einladung runter wie eine Einkaufsliste, und ohne auf seine Antwort zu warten, stand sie auf und setzte sich zurück zu Felix, der Erik einen zornigen Blick zuwarf. Erik hätte fast gewettet, dass er ein leichtes Kopfschütteln vernehmen konnte. Er zückte sein Handy, um den Termin für die Eröffnung des Ladens zu speichern, obwohl er noch unsicher war, ob er überhaupt hingehen würde. Doch irgendetwas in ihm ließ ihn zögern, als wäre es eine Einladung, die er nicht ignorieren konnte. Dann dämmerte es ihm: Übermorgen, der Tag der Eröffnung, war Lisas dreizehnter Todestag.

Kapitel 2 

»Sind Sie absolut sicher, dass wir das verantworten können, Dr. Mendez?«, fragte Professor Dr. Siebert und sah sie über den Rahmen seiner dickglasigen Brille ernst an. »Ich habe Ihr Gutachten gelesen und es scheint wirklich so, dass der Patient in der Lage ist, draußen zurechtzukommen, ohne rückfällig zu werden. Dennoch sagt mir mein Bauchgefühl, dass es nicht richtig ist. Dieser Mann hat seine Tochter nicht nur ermordet, nein, er hat sie zuvor auch noch vergewaltigt. Moralisch empfinde ich seine Entlassung als äußerst fahrlässig.«

Dr. Frieda Mendez lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, schlug ihre langen, braungebrannten Beine übereinander und wägte ihre Worte sorgfältig ab. Sie versuchte, den Bedenken von Professor Dr. Siebert im richtigen Maß zu begegnen.

»Ich behandle Herrn Winter seit fast sieben Jahren. In dieser Zeit hat er Strategien entwickelt, um potenzielle Risikosituationen zu erkennen und angemessen darauf zu reagieren. Er hat sich sowohl in den Gruppensitzungen als auch in den Einzelgesprächen stets kooperativ gezeigt und einen stabilen Eindruck hinterlassen. Er hat seine Schuld eingestanden und bereut seine Tat aufrichtig. Ebenfalls hat er schon vor vielen Jahren eingesehen, dass ›der Hutmacher‹ nur in seiner Vorstellung existiert hat, weil er die Tatsache, dass er seine Tochter ermordet hat, vor sich selbst geleugnet hat. Die Möglichkeit, Herrn Winter zu entlassen, könnte ihm die Gelegenheit geben, sich erfolgreich in die Gesellschaft zu reintegrieren. Seine positiven Fortschritte und seine persönliche Entwicklung zeigen, dass er motiviert ist, sich zu bessern. Dies könnte auch anderen Insassen als ermutigendes Beispiel dienen. Angesichts der Herausforderungen in psychiatrischen Einrichtungen wie Überbelegung und begrenzte Ressourcen könnte die Entlassung von als rehabilitiert geltenden Patienten dazu beitragen, das System zu entlasten und Raum für schwerwiegendere Fälle zu schaffen. Es ist wichtig zu betonen, dass Herr Winter nach seiner Entlassung weiterhin regelmäßige Nachsorgetermine und Therapiesitzungen besuchen wird, um seine Fortschritte aufrechtzuerhalten und auf potenzielle Rückfallrisiken angemessen reagieren zu können. Er hat die strikte Auflage, sich von Kindern, insbesondere Spielplätzen, Schulen und Kindergärten fernzuhalten. Außerdem ist für seine Unterkunft und eine kontinuierliche Erreichbarkeit ebenfalls gesorgt.« Dr. Mendez beendete ihre Erklärungen und sah Professor Dr. Siebert mit ruhigem Blick an, in der Hoffnung, dass ihre Darlegungen die Nuancen dieser komplexen Situation verdeutlichten. Sie verschwieg jedoch, dass sie nicht gänzlich von der Schuld von Andreas Winter überzeugt war.

»All diese Ausführungen habe ich natürlich auch in Ihrem Bericht gelesen.« Er schloss die Augen und atmete tief durch. »Wie dem auch sei, fachlich habe ich nichts gegen seine Entlassung hervorzubringen. Ich hoffe nur, dass wir hier keinen Fehler machen. Die Papiere habe ich bereits unterzeichnet, ab morgen ist Herr Winter ein freier Mann.«

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