Grausame Gier - Leseprobe

Prolog

Das Bett knarrte leise unter dem Gewicht des Mädchens, das sich darauf niedergelassen hatte, während ihre Finger sich in den Stoff des speckigen Bettbezugs krallten. Ihr Atem wurde unregelmäßig, begleitet von einem Schauder, der durch ihren Körper lief. Die von Schmutz und Schimmel gezeichneten Wände des Zimmers schienen sich bedrohlich zu nähern. Panisch sah sie nach rechts und links, auf der Suche nach etwas Sicherheit.

»Bitte«, flehte das Mädchen voller Angst, »ich habe doch nichts Falsches getan.« Doch ihr Flehen wurde von allen Anwesenden im Raum ignoriert. Zwei Männer umklammerten ihre Arme, zwei weitere ihre zitternden Knie. Das Grauen erreichte seinen Höhepunkt, als ein fünfter Mann, in Arztkleidung gehüllt, seine Hände unter ihr Nachthemd schob und mit einem langen, spitzen Gegenstand in sie eindrang.

Als das Werkzeug unaufhaltsam tiefer eingeführt wurde, durchzuckte ihren Körper ein messerscharfer Schmerz. Ihre Schreie hallten durch den Raum, als sie versuchte, sich gegen die Prozedur zu wehren, doch die Männer waren unerbittlich.

»Ganz ehrlich, Doktor? Wäre es nicht angebracht, ihr Laudanum zu geben? Das würde die ganze Situation für uns alle erträglicher machen«, schlug der Mann vor, der den rechten Arm des Mädchens umklammerte, während er seinen Kopf abwandte, um dem Klang ihrer Schreie auszuweichen.

»Eine derartige Verschwendung kommt bei einer solchen Person sicher nicht infrage. Und nun bitte ich Sie, sie weiter zu fixieren, sonst zieht sich dieser Prozess nur unnötig in die Länge.«

Der Mann sprach kühl und nüchtern, ohne Emotion. Seine präzisen, routinierten Handgriffe zeugten von langjähriger Erfahrung und unübertroffener Geschicklichkeit. Seine Augen offenbarten professionelle Distanz, ohne persönliche Beteiligung. Jeder Griff, jeder Blick, jede Bewegung sprach von der Vertrautheit eines Mannes, dem solche Eingriffe zur Gewohnheit geworden waren. Kopfschüttelnd drang er mit seinen Gerätschaften noch tiefer in das Mädchen ein. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn.

Anfänglich floss das Blut langsam aus ihr heraus, doch dann begann sie wild zu strampeln, um sich gegen ihre Peiniger zur Wehr zu setzen. Ihre Bewegungen waren heftig und unkontrolliert. Dies erschwerte den Vorgang erheblich, sodass das Blut schneller zu fließen begann, unaufhaltsam, bis es schließlich die Laken durchtränkte. Die Atemzüge des Mädchens wurden flacher und auch ihre Bewegungen ließen nach, bis sie schließlich das Bewusstsein verlor.

 Der Mann, den sie nur den ›Doktor‹ nannten, ging ungerührt seiner Arbeit nach.

»Doktor?«, fragte der Mann, der um das Laudanum gebeten hatte, erneut.

Seine Augen verengten sich, als er den Kopf leicht hob. »Was ist denn?« Seine Stimme klang schroff, unterbrochen von einem seufzenden Atemzug. Jede Silbe schien durch die Luft zu schneiden – ein scharfer Ausdruck der Frustration über die erneute Unterbrechung.

»Ich glaube, Sie können aufhören.«

»Aufhören? Sind Sie noch ganz bei Trost? Ich muss es aus ihr herausbekommen, bevor sie damit in wenigen Monaten einen Skandal auslöst.«

»Glauben Sie mir, Doktor, darüber brauchen Sie sich keine Gedanken mehr zu machen. Der einzige Skandal, den wir wieder einmal zu befürchten haben, ist, dass dieses Mädchen tot ist.«

Kapitel 1 

London, 1889

Der Gerichtsmediziner Dr. Benjamin Goldstein musste sich durch eine Traube von Menschen kämpfen, als er das Ufer der Themse in Tower Hamlets erreichte. Es war Mitte Oktober und zu dieser Jahreszeit lag der Nebel tief über London, und er hatte große Schwierigkeiten, seine eigene Hand vor Augen zu erkennen. Inspektor Sinclair vom Dezernat der Metropolitan Police in Whitechapel und einige seiner Mitarbeiter waren bereits angekommen. Goldstein wurde am Morgen von einem Boten aus dem Bett geholt, da einige Arbeiter, welche die neue Brücke errichteten, auf der Baustelle eine Leiche entdeckt hatten. 

»Guten Morgen, Inspektor Sinclair. Was haben Sie denn zu dieser gottlosen Stunde für mich?« Goldstein trat ebenfalls an den leblosen Körper heran und betrachtete ihn, soweit es im Schein der trüben Straßenlaternen möglich war. Der Mann lag nackt auf dem Rücken, alle Gliedmaßen von sich gestreckt.

»Donnerwetter«, sagte Goldstein und blickte über seine Schulter zu Inspektor Sinclair.

»Das ist William Pembroke«, bemerkte der Inspektor und wischte sich mit einem Stofftaschentuch die Schweißperlen von der Stirn. »Er ist der Direktor der Bank of London. Und spätestens heute Abend wird jedes Blatt in London darüber berichten. Ich weiß nicht, wie sie das sehen, aber der Mann wurde eindeutig gefoltert. Sie sollten auch mal einen Blick auf seine Genitalien werfen. Da muss jemand wirklich verdammt wütend auf den Mann gewesen sein.« Sinclair verzog verärgert das Gesicht. Die Presse hatte schon im Fall von Jack the Ripper für Furore gesorgt und die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzt. Der Mord an Pembroke würde mit Sicherheit ein gefundenes Fressen für sie sein.

»Reichen Sie mir doch bitte eine Lampe, Inspektor«, bat Dr. Goldstein und streckte seine Hand aus.

Langsam beleuchtete Dr. Goldstein jeden Millimeter des Leichnams. Obwohl die Zeit im Wasser begrenzt war, waren die Spuren nicht zu übersehen. Die Haut war aufgequollen und von blasser Farbe, mit einigen Wasserblasen. Dunkle Flecken, in verschiedenen Größen und Formen, zierten den Körper des Mannes, ein eindeutiges Zeichen schwerer Misshandlung. Das Fehlen von Fuß- und Fingernägeln ließ auf weitere Gewaltakte schließen. Er beleuchtete kurz die Genitalien des Opfers. Trotz, dass das Wasser der Leiche zugesetzt hatte, glaubte er zu erkennen, dass sein Glied Brandspuren aufwies, doch das Licht war zu schlecht, um dies genau beurteilen zu können. Zuletzt fiel Dr. Goldstein die bläulich-rote Verfärbung an den Lippen des Mannes auf. Die Farbe und das Muster dieser Verfärbung ließen ihn darauf schließen, dass sie nicht auf natürliche Weise entstanden war. Die Vermutung, dass Pembroke kurz vor seinem Tod eine beträchtliche Menge Wein getrunken hatte, lag nahe, doch weitere Untersuchungen würden nötig sein, um diese Theorie zu bestätigen. Er neigte seinen Kopf noch ein wenig nach unten und stellte fest, dass sich neben der Verfärbung auch Verletzungen in der Mundhöhle des Toten fanden. Doch auch hier reichte das Licht nicht aus, um diese Verletzungen genau zu analysieren. Da der Mann scheinbar gefoltert wurde, bezweifelte er auch, dass er den Wein freiwillig zu sich genommen hatte.

»Hier kann ich ihn nicht untersuchen. Es ist noch viel zu dunkel, und der Nebel ist für meine Beobachtungen auch nicht unbedingt förderlich«, stellte Dr. Goldstein nüchtern fest.

»Das hab’ ich mir schon gedacht. Es wäre in der Tat mysteriös, wenn Sie bei diesen Lichtverhältnissen besser sehen könnten als wir anderen. Ich werde umgehend veranlassen, dass er in Ihr Laboratorium gebracht wird.«

»Das wird wohl am besten sein, Inspektor. Meine Haushälterin wird Ihnen die Tür öffnen und Sie in den Keller führen. Ich werde mich hier noch eine Weile umsehen. Ich will Ihnen und Ihren Männern natürlich nicht Ihre Professionalität absprechen, aber ich würde dennoch gerne prüfen, ob Sie nicht noch etwas übersehen haben.«

Inspektor Sinclair nahm die Spitze gegen seine Männer kommentarlos hin, verabschiedete sich mit einem kurzen Nicken und gab seinen Männern diverse Anweisungen, um den Abtransport von William Pembroke so unauffällig wie möglich zu gestalten.

Dr. Goldstein näherte sich der Baustelle und betrachtete die Gerüste und Vorrichtungen. Es schien unwahrscheinlich, dass jemand die Leiche von dort heruntergeworfen hatte. Der Bau war noch nicht weit genug vorangeschritten, und der Täter hätte sich selbst in Gefahr gebracht. Die Tatsache, dass der Mann vollkommen nackt war, beschäftigte ihn. Allmählich erhellte sich der Himmel. Er schlenderte das Ufer in beide Richtungen entlang, jeweils 200 Meter von der Stelle entfernt, an der die Leiche gefunden worden war.

Während er sich eine Zigarette anzündete, um seine Gedanken zu ordnen, tummelten sich noch immer Schaulustige um den Ort des Geschehens, denen er geschickt aus dem Weg ging. Es dauerte nicht lange, bis auch die ersten Reporter eintrafen. »Die Pressehunde lassen sich das natürlich auch nicht entgehen«, murmelte er und nahm einen tiefen Zug seiner Zigarette.

Eine drückende Schwere umgab die Luft, begleitet von einem elektrisierenden Knistern, welches Dr. Goldstein auf Schritt und Tritt begleitete. Jeder Blick, jedes Flüstern schien den Druck zu verstärken, der auf ihm lastete, die Antworten zu finden, bevor die Gerüchte London in einen Strudel der Unruhe zogen.

Er machte sich daran, die Szenerie akribisch zu untersuchen. Jeder Stein, jede kleine Abweichung im Gelände wurde von seinem geschulten Blick erfasst. Doch er fand nichts, was auch nur annähernd ungewöhnlich schien.

Die Anwesenheit der Schaulustigen und Reporter störte seine Konzentration, aber er zwang sich, ruhig zu bleiben und sich auf die Arbeit zu fokussieren.

William Pembroke war in der Stadt ungeheuerlich bekannt gewesen. London würde in Aufruhr geraten, sobald die Nachricht von seinem gewaltvollen Tod die Runde machte.

Ein Blick auf seine Taschenuhr verriet ihm, dass er inzwischen seit fast zwei Stunden am Ufer auf und ab ging. Er hatte die Zeit vollkommen vergessen. Sicherlich hatten in der Zwischenzeit schon Gerüchte in der Bevölkerung die Runde gemacht, immerhin waren genug Menschen anwesend, als Pembroke gefunden wurde. Er sah ein, dass es hier nichts mehr für ihn zu finden gab und wollte sich gerade auf den Weg zurück in sein Laboratorium machen, als sein Blick auf eine junge Frau fiel, welche einige Meter von ihm entfernt stand.

Kapitel 2 

Eliza Ashford, eine junge Journalistin der Victorian Gazette, stand am Fenster ihres Büros und beobachtete das wilde Treiben auf der Fleet Street, einem Labyrinth aus nebligen Gassen und schattigen Ecken. Vor ihr erstreckte sich das pulsierende Herz der Stadt, in dem Pferdekutschen durch das trübe Licht der Gaslaternen fuhren und Zeitungsjungen die neuesten Sensationen in die dunklen Straßen riefen. Doch noch schwiegen sie über das jüngste Ereignis, obgleich sich die Gerüchte bereits durch die Bevölkerung zogen.

In den frühen Morgenstunden wurde die Leiche von William Pembroke, der vor drei Tagen verschwunden war, am Ufer der Themse entdeckt.

Sie betrachtete die Menschenmengen unten auf der Straße, die bereits in aufgeregten Gesprächen über das verstörende Ereignis vertieft waren. Eine unstillbare Gier nach Informationen und Wahrheit schien durch die Menge zu ziehen, eine Sehnsucht nach Enthüllungen, die sie antrieb. Eliza wusste, dass diese Tragödie nicht nur eine Schreckensnachricht, sondern auch eine Chance für ihren Vater war, die Gazette wieder zu neuen Höhen zu bringen. Die Auflage ging in den letzten Monaten stark zurück, und sie wusste, dass diese Tatsache ihrem Vater große Sorgen bereitete. Hier bot sich die Möglichkeit, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit wieder auf die Victorian Gazette zu lenken. Die Morde von Jack the Ripper im letzten Herbst hatten der Zeitung einen enormen Aufschwung gegeben, und Eliza war sich bewusst, dass eine ähnlich fesselnde Geschichte die Victorian Gazette erneut ins Rampenlicht rücken könnte. Jeder Blick, den sie auf die Menge warf, war wie ein Echo ihrer eigenen Neugierde. Sie trat nervös von einem Fuß auf den anderen und überlegte fieberhaft, ob sie es wagen sollte, ihren Vater um die Recherche dieses Falls zu bitten.

Eliza öffnete eilig ihre Bürotür und betrat den Redaktionsraum. Dort sah sie hektische Redakteure, die an ihren Schreibtischen hin und her liefen, während die Druckmaschinen im Hintergrund lautstark arbeiteten. Papiere und Zeitungsausgaben stapelten sich auf den Tischen, Telegrafenapparate summten unablässig, und Neuigkeiten aus der ganzen Welt trafen ein. Mit einem suchenden Blick fand sie schließlich ihren Vater, dem Besitzer der Redaktion.

»Vater, ich will über den Mord an Pembroke schreiben«, sagte Eliza entschlossen. »Die Konkurrenz von Blättern wie der Times und dem Daily Telegraph ist stark. Wir müssen jede Information nutzen, um die Victorian Gazette an die Spitze zu bringen.«

Sir Archibald nickte zustimmend. »Eliza, du bist zweifellos die Beste in dieser Redaktion. Aber ich weiß nicht, ob das nicht zu gefährlich für dich ist. Ich kannte William schon seit Jahren. Er hat unsere Finanzen betreut. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass er sich auch mit zwielichtigen Männern abgegeben hat. Wenn William ein Geschäft witterte, war er meist ganz vorne mit dabei.«

»VATER!«, rief sie mit fester Stimme. »Ich bin kein Kind mehr. Ich kann auf mich aufpassen. Außerdem haben wir so eine Chance, die Auflage wieder zu erhöhen. Du sagtest selbst, ich sei die Beste. Ich wünsche mir wirklich, dass du mich, während der Arbeitszeit nicht als deine Tochter, sondern als sehr gute Journalistin betrachtest. Wir können nicht zulassen, dass die anderen uns mal wieder ausstechen.«

»Ich weiß nicht, ob das wirklich so eine gute Idee ist, meine Liebe.« Nervös fuhr er sich durch sein Haar, welches bis auf einige graue Strähnen ebenso dunkel war wie das ihre.

Sie sah ihm an, dass er mit sich haderte, sie wusste, dass er kurz davor war, nachzugeben. Diese Gelegenheit musste sie für sich nutzen. »Vater?«, begann sie und trat einen Schritt auf ihn zu. »Du hast mir diese Ausbildung ermöglicht, weil du schon sehr früh erkannt hast, wie talentiert ich bin. Du hast selbst immer wieder betont, wie wichtig du es findest, dass auch eine Frau in dieser Gesellschaft ihre Fähigkeiten entfalten kann. Du gehörst zu den fortschrittlichsten Männern, die ich kenne. Du hast stets gegen die starren Konventionen unserer Zeit rebelliert, weil du sie für zu konservativ gehalten hast. Oder liege ich da falsch?«

»Ja, natürlich. Aber das heißt doch noch lange nicht, dass ich zulassen kann, dass sich mein einziges Kind in Gefahr begibt.«

»Was könnte mir schon passieren? Ich werde nach Tower Hamlets fahren, die Einwohner befragen, die Gegend erkunden, zurückkehren und einen vorzüglichen Artikel verfassen, der die Leser beeindrucken wird. Nicht mehr und nicht weniger.«

Sir Archibald atmete tief durch. Sie wusste, er hatte keine Argumente mehr dagegen einzubringen.

»Na schön. Aber komm bitte noch kurz in mein Büro.«

Er ging voraus, trat hinter seinen Schreibtisch und öffnete eine Schublade. Daraus holte er eine kleine, aber fein gearbeitete Tasche aus Satin und reichte sie ihr. »Nur für den Notfall.«

Eliza öffnete die Tasche und erblickte einen Derringer darin. »Du weißt doch, dass wir uns nicht im Wilden Westen befinden, nicht wahr, Vater?«, erwiderte sie, als sie die kleine Pistole sah und schloss die Tasche.

»Natürlich weiß ich das. Aber nimm sie trotzdem mit. Ich würde mich dadurch um einiges wohler fühlen.«

Sie schenkte ihrem Vater ein Lächeln und schüttelte den Kopf. »Hältst du das nicht für ein wenig übertrieben? Aber gut. Wenn du dich damit besser fühlst, meinetwegen.« Demonstrativ nahm sie die Tasche entgegen, gab ihm zum Abschied einen Kuss auf die Wange und verließ umgehend die Redaktion.

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